Die Glocken der Neuwerkkirche In der Neuwerkkirche befindet sich
eines der wenigen komplett erhaltenen
mittelalterlichen Geläute in
Deutschland. Das Geläut besteht
aus 5 Bronzeglocken verschiedener
Größe aus der Zeit um 1200 bis
Anfang 1400.
Da die Neuwerkkirche ursprünglich eine Klosterkirche war, hat sie im Gegensatz zu den anderen Goslarer Altstadtkirchen keine Turmuhr und somit auch keine Glocke mit Stundenschlag.
Viele Besucher unserer Kirche fragen, in welchem Turm denn unsere Glocken hängen. Wenn man sich das Westwerk mit den Türmen von der Gartenseite ansieht, fallen einem die großen Schallfenster auf. Sie befinden sich sowohl im Nord- und Südturm als auch im Westwerk in einer Etage angeordnet.
Zu jeder Glocke gehört neben anderen
wichtigen Armaturen auch
immer eine „Aufhängemöglichkeit“,
der so genannte Glockenstuhl. Der
große Glockenstuhl für die Glocken
I, II, IV und V befindet sich im Westwerk,
die Glocke III hat ihren eigenen
kleinen Glockenstuhl im Südturm.
Als Glocke bezeichnet man im Allgemeinen den Glockenmantel, in dem der Klöppel schwingend aufgehängt ist. Der Glockenmantel wiederum ist mit seiner „Krone“ durch Halteeisen am Jochbalken des Glockenstuhles befestigt. Der Jochbalken ist mittels zweier Kugellager schwingend beweglich. An einem Ende des Jochbalkens befindet sich heute meistens ein Läuterad, über das das Läuteseil zum Läutemotor verläuft.
Die Glocken der Neuwerkkirche wurden früher zunächst zum Läuten „getreten“. Später bekamen sie zur Arbeitserleichterung lange Läuteseile, die bis in den Raum unter dem Glockenstuhl reichten. In den 1960er Jahren wurde die Läuteanlage mit Motoren und einer Steuerungselektronik ausgestattet.
Das „Glockentreten“ war eine anstrengende und laute Tätigkeit, da der Glöckner jeweils das ganze Glockengewicht, das sind ca. 1000 - 1500 kg, mit einem Bein in Schwingung versetzen musste und sich dabei direkt über den Glocken aufhielt. (Siehe Bild oben rechts).
Jede unserer Glocken hat eine eigene Tonhöhe und ihren eigenen Klang. Nach der Tonhöhe werden die Glocken dann auch mit der römischen Bezifferung I bis V bezeichnet, wobei die Glocke I den tiefsten und die Glocke V den höchsten Klang hat.
Der Zusammenklang aller Glocken gemeinsam bildet an Sonn- und Feiertagen das so genannte plenum, das „volle Geläut“.
Wie schon erläutert, werden die Glocken einer Kirche nach ihrer musikalischen Tonhöhe, nicht unbedingt nach ihrer Größe gegliedert. Ein entscheidender Faktor ist die Masse der Bronze, die in einer Glocke verarbeitet worden ist.
Die musikalisch tiefste Glocke in der Neuwerkkirche hat die Tonhöhe e’, wurde früher „Sonntagsglocke“ genannt und wird als Glocke I bezeichnet.
Sie wiegt 1550kg, der Glockenmantel hat eine Höhe von 1,05m, einen unteren Manteldurchmesser von 1,30m und eine Schlagringstärke von 9,7cm.
Laut Aussage des Glockensachverständigen
Claus Peter ist sie ein
„prachtvolles Gusswerk“ aus der 2.
Hälfte des 13. Jahrhunderts.
„Die Inschrift an der Schulter, zwischen je zwei kräftigen Stegen stehend, ist in großen, spätromanischen- frühgotischen Majuskeln ausgeführt. Die Buchstaben stehen in ganz feinen Linien auf der Glockenfläche“. Auf die hier angewandte „Ritztechnik in den abgehobenen Formmantel“, werde ich zu einem späteren Zeitpunkt noch eingehen.
Die Inschrift lautet: „AVE MARIA GRACIA PLENA DOMINUS TECUM“ ; in Deutsch: „Sei gegrüßt, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.“ - Eine im Mittelalter häufig verwendete Marienanrufung. Unter der Inschrift sind neun runde bzw. vierpassförmige plakettenartige Reliefs angebracht, die allerdings nur noch schwer zu erkennen sind.
Bereits 1953 schreibt H.-G. Griep
dazu: „Einigermaßen identifizierbar
sind: zweimal ein berittener Engel,
Apostel Paulus (mit Schwert) und
Petrus (?), eine sitzende Figur, das
Lamm Gottes anbetend (?), sowie
eine weitere sitzende Figur“.
Oberhalb des Schlagringes verlaufen
drei Ringe und am unteren
Rand der Glocke ist noch ein Wulst
ausgeprägt. Die Halteösen der Glockenkrone
sind an den Außenseiten
mit Perlstäben verziert. Dies war
für Glockenkronen im 13. Jahrhundert
recht ungewöhnlich.
Claus Peter schreibt in seinem Beitrag
„Ein (kundiger) Tourist entdeckt
Neuwerks Glocken“ (1986):
„Schließlich geben Ausführung und
Gestaltung von Schrift und Krone
der großen Neuwerkglocke sogar
einen Hinweis auf den Gießer.
Weitgehend gleich gestaltete Buchstaben
und eine in gleicher eigentümlichen
Weise verzierte Krone
zeigte nämlich auch eine unverständlicherweise
im 1.Weltkrieg vernichtete Glocke der Frankenberger
Kirche. Ihre Inschrift nannte
den sonst nicht weiter bekannten
Gießer Gaudericus. Aufgrund der
übereinstimmenden Merkmale beider
Glocken ist es so gut wie sicher,
dass auch die unsignierte
große Neuwerkglocke von diesem
Gießer stammt.“
An den Jochbalken der Glocken I
und II sind noch heute die Tretbretter
zum „Treten“ der Glocken befestigt.
Um auf diese alte Art eine
Glocke zu läuten, muss man auf
den alten Laufgang oberhalb des
Glockenstuhles klettern und mit
erheblichem Kraftaufwand diese
aus den Knien heraus in Schwingung
versetzen.
Da es in den letzten Jahrhunderten gelegentlich Unfälle von „Läutekindern“ gegeben hatte, wurden auch die Glocken von Neuwerk in der Vergangenheit auf Seilzug umgerüstet. (Siehe Bild oben) Dies kann man heute noch gut auf dem Läuteboden erkennen.
Die Glocke II im großen Glockenstuhl mit der Nominaltonhöhe a' hat eine Höhe von 1,05m (ohne Krone), einen unteren Manteldurchmesser von 1,19m und ein Gewicht von 1000kg. Sie gilt als ‚ein außerordentlich interessantes Meisterwerk mittelalterlicher Glockengießerei'. Auch diese Glocke verfügt am Jochbalken noch über ein Trittbrett. Das Gussjahr dieser Glocke ist 1314, welches in der Inschrift des Glockenmantels mit vermerkt worden war. Sie hat ein zweizeiliges umlaufendes Schriftband an der Glockenschulter mit rautenförmigen Punkten zur Worttrennung.
Am Schluss steht eine größere, vermutlich aus Wachsstäben modellierte Raute. "Die Buchstaben sind - und das ist im frühen 14. Jahrhundert eine ganz große Besonderheit - gotische Minuskeln, zwischen denen einige Majuskeln verteilt sind. Die Glocke dürfte damit eine der ältesten überhaupt mit diesem eigentlich für das 15. und 16. Jahrhundert charakteristischen Buchstabentyp sein, der in Glockeninschriften normalerweise erst von der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts an in wenigen Einzelfällen aufscheint. Die ungewöhnlich großen, schön geformten Buchstaben sind offenkundig aus freier Hand aus Wachsplatten ausgeschnitten und auf das Glockenmodell geklebt worden." (s. Claus Peter über Neuwerks Glocken)
Der Text lautet:
Fulmineus . terror . et . quilibet . aeris . error . + Matre . dei . dante . fuGiant . hoc . ere . sonate . am (dreiteiliges Blatt) (2. Zeile) Rector . celi . nos . exaudi . tu . diGnare . nos . saluare. A . . nos . adi-uua (dreiteiliges Blatt) año . dñi . M . ccc . XIIII . fça (unterhalb des Schriftbandes) . sum .
Auf Deutsch lautet die Inschrift:
(1. Zeile) "Schrecken des Blitzes und jeglicher Wirbel der Luft mögen - wenn die Mutter Gottes es gibt - dem Klang dieses Erzes entfliehen. Amen"
(2. Zeile) " Herrscher des Himmels erhöre uns, erachte uns für würdig, uns zu erretten. Du A und O, hilf uns! Im Jahre des Herrn 1314 bin ich gemacht.
Im Text der ersten Zeile ist deutlich die mittelalterliche Hoffnung auf die Schutzfunktion von kirchlichem Geläut gegen alles Böse und die Dämonen der Nacht zu hören. Die zweite Zeile enthält das Zitat eines im Mittelalter gern verwendeten Gebetstextes und anschließend das Gussjahr der Glocke.
Die Glocke II hat noch eine Besonderheit zu bieten: Sie ist die einzige der fünf Glocken, auf deren Mantel sich auch noch größere figürliche Darstellungen befinden.
Da die Glocke aber in den 80er-Jahren wegen Aufhängungsproblemen gedreht werden musste, sind die Darstellungen an den Flanken heute schwer zu erkennen. Auf der einen Seite ist ein 33,5 cm hohes Kruzifix und auf der anderen Seite eine 28 cm hohe trauernde Mutter Gottes zu sehen.
Diese hochwertigen und feinen Zeichnungen sind ebenfalls mit der Ritztechnik in den abgehobenen Formmantel beim Glockengießer eingebracht worden.
Stefan Roblick